Reichtum: innerlich und äußerlich

 Bezüglich dessen, was wir unter Reichtum verstehen, fallen uns unschwer sowohl innere als auch äußere Werte ein. Jedenfalls solange wir oberflächlich darüber nachdenken, ist das einfach. Zivilisatorisch bedingt stoßen wir aber bald auf ein Prinzip, das den äußeren Reichtum präferiert sein lässt.

Die große Überschrift „Wer hat, dem wird gegeben“ scheint sich zu bewahrheiten, wenn wir auf die gigantischen Zugewinne blicken, die, wie von Geisterhand bereitet, der Akkumulation der Supervermögen folgen, und die zugleich das Elend der sowieso schon Armen immer mehr vergrößern. Mit kluger Hand und einer großen Brise Rücksichtslosigkeit lassen sich – systemkonform – unter günstigen Bedingungen schnell so große Vermögen aufbauen, dass sich deren Eigner tatsächlich scheinbar alles erlauben können. Dieses Resultat trägt die ganze Ironie der Logik des Kapitalismus in sich: „Alles erlauben“, voller Genuss und Erbarmungslosigkeit!

 

Wenn vom „Fleiß“ gesprochen wird, ist das meisten positiv konnotiert. Zielstrebigkeit, Ehrgeiz und Ausdauer sind zugeordnete Eigenschaften, die fleißigen Menschen zu eigen sind. Demgegenüber kommt die Muße schlecht weg. Sie findet für das vorherrschende Verständnis ihren Platz lediglich in den Resten an Zeit, die beim Erwirtschaften „positiver Leistungen“ übrig geblieben sind. Wenn man bedenkt, dass wir Menschen der westlichen Welt lebensdurchschnittlich (eingerechnet bereits die per se von jeder Erwerbstätgkeit freien Zeiten von Kindheit, Jugend und Alter) über nur drei Stunden freier Zeit pro Tag verfügen, ist das das Ergebnis einer erbärmlichen Bilanzierung.

 

Wofür leben wir? Im Sinne der Kultur der frühindustrialisierten Länder um der Erwerbsarbeit willen! Unsere Ausbildung ist darauf ausgerichtet, diesbezüglich erfolgreich zu sein. Die Jahre nach der Berentung gelten als wohlverdiente Ruhephase am Ende einer Biografie, sozusagen als Bonus auf die hart erbrachten Leistungen in früheren Jahren. Merkwürdig, dass so viele genau damit so unzufrieden sind, und sich, von Einzelfällen abgesehen, daran trotzdem kaum etwas ändert. Wie auch? Unsere Existenz ist in unserem Wirtschaftssystem immer von den Leistungen anderer abhängig. Da diese Leistungen nur gegen Bezahlung verfügbar werden, und weil wir das für die Bezahlung benötigte Geld nur als Lohn für erbrachte Arbeit erhalten, besteht der dauernde Zwang zum Erhalt des augenblicklich aktuell wirksamen Systems. Wofür leben wir? So gesehen für den dauernden Konsum (von irgendwas)!

 

Tatsächlich nehmen sich nur sehr, sehr wenige Menschen regelmäßig Zeit für den Blick nach innen. Momente der Muße, also die negative Leistung kommt in unserer Art zu leben so gut wie gar nicht mehr vor. Sie steht nämlich schon seit Langem in außerordentlich schlechtem Ruf. Für alles andere haben wir begeistert Deutungen und Vorbilder kreiert, hinter deren vereinseitigter Wirklichkeit wir die lebendige Wahrheit nicht mehr erleben – was als die schlimmste aller Krisen bezeichnet werden kann, denn wir sehen die Welt deshalb nicht mehr wie sie wirklich ist, sondern nur den einen Teil, der sich am dauernden Schaffen und Mehren orientiert. Diese einseitige Sichtweise erfasst zwar die Wirklichkeiten positiver Leistungen, die nicht zu leugnen sind, aber die ganze Wahrheit, zu der eben auch die negativen Leistungen, die Muße, die Reflexion gehören, ist darin kaum noch zu finden. Die Leistung eines Herzens erscheint im Strom des Blutes durch den Leib. Stahl verformt sich unter dem platzierten Schlag. Dass wir darin den Einstrom des Blutes und die Phase der Ruhe in der Diastase ebenso wenig berücksichtigen wie den Aufschwung des Hammers vor dem nächsten Schlag, wirkt exemplarisch: In dem wie wir handeln, bzw. in dem wie wir zu handeln gezwungen sind, sehen wir die Wirklichkeit. Darin kann eine sinnvolle Leistung nur positiv sein, indem sie Vorhandenes stets mehrt oder vergrößert. Ruhe und Entspannung degenerieren in einer solchen Weltsicht schnell zum überflüssigen, vermeintlichen Nichts. Diese Abwertung negativer Leistungen haben wir Menschen derart verinnerlicht, dass wir in einer weitgehend unbewussten Reaktion jede Entspannung und Erleichterung unseres Lebens dafür nutzen, um nur noch mehr zu leisten, zu besitzen und zu verbrauchen.