Die Erde und der Mensch

Stellen Sie sich bitte einmal unsere Erde vor, diesen wunderbaren, einzigartigen Planeten, der im Chor der anderen Planeten und Sterne im weiten Weltraum schwebt. Umgeben ist die Erde von einer zarten Hülle, der Biosphäre. In dieser zarten Hülle ereignet sich unser Leben. Diese Biosphäre ist ein Zwischenraum zwischen Weltall und Erde. Sie ermöglicht das schier unergründliche Wunder des Lebens, das so vielfältig und so komplex ist, dass wir es mit unserem Verstand nicht fassen können.

 

Die Erde im Weltraum ist das makrokosmische Phänomen, dem unser eigener Leib als Mikrokosmos entspricht. Wir Menschen, hier auf der Erde, sind so etwas wie eine „kleine Erde“. Die irdische Umgebung ist unser Weltraum, in dem wir gemeinsam mit vielen anderen Menschen und weiteren Lebewesen existieren. Und auch zu jedem von uns gehört so etwas wie eine Biosphäre, wenn wir den unmittelbaren Bereich der so genannten Ausstrahlung eines Menschen auf einen anderen Menschen jetzt einmal mit dem gleichsetzen, was als Luft und Wolkenhülle unsere Erde umgibt. Auch zwischen Mensch und Mensch gibt es also diesen geheimnisvollen, komplexen Zwischenraum.

Joseph Beuys sagte einmal: „Die Liebe des selbstlos Wirkenden ermöglicht jeweils dem anderen Menschen den Seelenraum zu finden, in dem er seine eigenen, ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten uneingeschränkt entfalten kann.“ Ja, werden Sie jetzt sagen, das stimmt! Aber das Leben, wie wir es tagtäglich erfahren, ist anders, als es der Künstler mit diesem wunderbaren Satz beschrieben hat. Im alltäglichen Leben ist es leider nur sehr selten so, dass der eine Mensch dem anderen Menschen ermöglicht, seinen Seelenraum zu finden. Im alltäglichen Leben herrschen Verhältnisse, die uns Menschen permanent zu etwas anderem drängen, als wir es selbst tatsächlich aus dem Grunde unseres Herzens wollen. Je nach dem, wohin wir von diesem Drängen geführt werden, geht es dann recht bald um die zentrale Frage nach der Menschenwürde, also danach, was sich als freie Entfaltung des Persönlichen, des Individuellen mit dem Seelenraum verbindet, in dem jeder von uns sich entfalten möchte.

Dieses Dilemma hat seine Ursache unter anderem darin, dass wir immer weniger verstehen, was es mit diesem Zwischenraum auf sich hat. Wir kommen in diese irdische Welt als Individualität herein und beginnen bald damit, uns gegenüber den anderen Lebewesen mehr und mehr verdrängend zu engagieren. Wir tun das Gegenteil von dem, was Joseph Beuys vorschwebte. Indem sich das Leben so ereignet, indem die Prinzipien von Ausbeutung und Verdrängung zu Maximen unseres modernen Lebens geworden sind, wirkt eine Denkart, die im Mainstream sogar als Wissenschaft etabliert wurde und über die Carl Friedrich von Weizsäcker einmal folgendes geschrieben hat: „Vielleicht leben wir in einer vorwiegend religionslosen Welt. Aber es ist psychologisch unwahrscheinlich, dass der Ort in der Seele des durchschnittlichen Menschen, den früher die Religion einnahm, heute leerstehen könnte. Meine erste These behauptet, an diesem Ort stehe heute die Wissenschaft. Oder, wenn man genauer reden will, der Szientismus, das heißt der Glaube an die Wissenschaft.“ (aus „Die Tragweite der Wissenschaft“, Stuttgart 1964) Carl Friedrich von Weizsäcker drückte damit einen Tatbestand aus, der vor 50 Jahren bereits absolut aktuell war. Für die Beantwortung der damals und heute virulenten Lebensfragen waren die Wissenschaft und die Religion an ihre Grenzen gelangt. Seither ist etwas neues dafür nötig, Lebensfragen zu dechiffrieren. Damals begann eine Suche danach als weit ausgreifende Bewegung, die sich bis heute weiter entwickelt und verstärkt hat.

Die 60er-Jahre wurden als Wendezeit bekannt. Flowerpower, Fluxus, Hippies, Drogen, Esoterik, sexuelle Revolution usw. usw. Aber auch die so genannte Frankfurter Schule trug zu neuen Weltbildern bei. In dieser Schule lehrte zum Beispiel der Philosoph Theodor Adorno, der es auf den Punkt brachte, indem er sagte: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Wie wahr! Die junge Generation von damals spürte, dass es ganz sicher nicht die sklerotisierte Religion oder die überhebliche Wissenschaft sein konnten, die sie über den Zwischenraum aufklären könnte.

Wenn es darum ging, Leben, Zusammenleben zu gestalten und zu organisieren, wenn es darum ging, etwas zu oder über den Zwischenraum, also über das Mysterium des Lebens zu sagen, dann wollten die jungen Leute von damals nur eines: Sie wollten selbst entscheiden, was für sie das richtige ist! Sie wollten bis in ihr Innerstes hinein frei sein. Keine Religion, keine Wissenschaft sollte in der Welt, die sie sich wünschten, vorgeben, was das Leben des einzelnen Menschen bestimmt. Denn das Zwischenmenschliche wird durch Kreativität zugänglich, der Zwischenraum wird durch Kunst verständlich. Darin liegt der Keimpunkt jeder Freiheit. Diese neue Erkenntnis ist vor 50 Jahren von Vielen einer ganzen Generation ins Leben getragen worden – uns es lohnt sich durchaus, daran anzuknüpfen!