Das Unbearbeitete, das bleibt

Es war ein riesiger Block Marmor, ein Felsen, den man im italienischen Carrara aus einem Steinbruch bis in den Domgarten von Florenz geschafft hatte. Und dann bekam der Künstler Michelangelo den Auftrag daraus auf dem Marktplatz von Florenz eine David-Statue zu schaffen.

So entstand von über 500 Jahren eines der bedeutendsten Kunstwerke der Geschichte. Michelangelo wurde nach der Fertigstellung einmal gefragt, wie er diese wunderbare Figur schaffen konnte. Seine verblüffende Antwort: „Ich musste die Figur nur vom überflüssigen Stein befreien.“ Er hatte mit seinem Künstlerblick das fertige Werk bereits vor Augen, als man eigentlich erst nur den rohen Stein sah.

Etwa 40 Jahre ist es her, als im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg der Bildhauer Otto Flath arbeitete. Er stand da in seinem Atelier, schon ein alter Mann, aber von starker körperlicher Kraft und zugleich sehr feinem Gemüt. Seine riesigen Figuren schuf er aus Holz, sah in den wuchtigen Baumstämmen auch schon die Menschen und Menschengruppen, die er kunstvoll zur Erscheinung brachte. Aber er ließ auch immer etwas vom eigentlichen Baum stehen. Es ist so, als wüchsen die Figuren auch jetzt noch aus den Buchen, Eschen oder Eichen heraus, dem Betrachter entgegen.

Nun ja, ich denke mir, dass das so auch mit dem Leben ist. Zu Anfang ist da ein riesiger Block oder Stamm, aus dem heraus mit den Jahren ein Mensch erscheint. Wir sehen im Leben unsere Aufgaben, Ziele, Wünsche und Möglichkeiten. Dann geht’s ans Werk. Nach und nach erscheint der Mensch. Unverwechselbar, einzigartig und schön. Ja, das Leben ist schön, auch wenn immer etwas stehenbleibt, das noch unbearbeitet ist und aus dem der Mensch immer weiter hervortritt. Aber gerade das ist so schön – wenn man liebevoll genau hinsieht!