"Himmlisches" Jerusalem

Ein zu einer durch Gewaltherrschaft geprägten Zeit passendes Narrativ ist die Apokalypse (griechisch: ἀποκάλυψις „Enthüllung“, wörtlich „Entschleierung“). Sie besteht aus bildhaften Beschreibungen endzeitlicher Ereignisse, zu denen es kommt, wenn in der letzten Eskalation verlotterten Lebens unheilvolle Entwicklungen kollabieren.

Apokalyptische Zeiten sind solche der Entscheidung und Selektion. Die „Guten“ werden von den „Schlechten“ getrennt, der göttliche Eingriff in von Menschen nicht mehr beherrschbare Lebensereignisse beendet für die einen die Qual, während sie für die anderen für immer und ewig verstetigt wird.

Apokalypsen begleiten die Geschichte der Zivilisation. Als Ausdruck der nie ganz versiegenden Hoffnung auf bessere Zeiten berichten sie vom Endkampf des Guten mit dem Bösen. Licht und Finsternis erscheinen als Synonyme für die Kräfte ewigen Lebens und des Todes. Die Szenarien entscheidender Schlachten sind von unerbittlicher Gewalt bestimmt: Feuer fällt vom Himmel, Drachen und Dämonen gieren nach wehrlosen Seelen, wehrhafte Engel und Götter greifen schützend in die Gefahrenlagen ein. Am Ende ist es eine Minderheit von Getreuen, die das Gemetzel überlebt. Eine neue Kultur kann mit ihnen beginnen. Bessere Zeiten brechen an.

Zweifellos wird jede Epoche irgendwann von Ereignissen betroffen, die ihren Niedergang begleiten. Jede noch so gute Gewohnheit oder Regel kann, zum Eigenleben erwacht, das Gegenteil von dem bewirken, was ursprünglich in bester Absicht gemeint war. Infolge geraten geordnete Verhältnisse durcheinander. Menschen verlieren (innerlich und äußerlich) ihren Halt. Der US-amerikanische Geschichtswissenschaftler Yoshihiro Francis Fukuyama deutet die weltgeschichtlichen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart als Zeugnisse vom „Ende der Geschichte“. Totalitäre Systeme, wie sie das Leben der Menschen in den zurückliegenden 5000 Jahren – seit die Herrschaft von Menschen über Menschen begann – bestimmten, verlieren ihre Macht. Auch der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems ist nach nur 500 Jahren seines Bestehens bereits absehbar.

Auch die Jetztzeit trägt apokalyptische Züge. „Die Verbindung von Apokalyptik und Kapitalismus ist heute von geradezu unheimlicher Aktualität.. Himmlisches Jerusalem und Schwefelsee liegen in den modernen „global cities“ häufig nah beieinander. Während die Auserwählten in gläsernen Türmen Zahlen, Buchstaben und Bilder über ihre Bildschirme laufen sehen, versinken wenige Straßenecken weiter die vom globalen Markt Verworfenen in Fäkalien- und Müllbergen, die von den Himmlischen produziert werden.“ (Fabian Scheidler „Das Ende der Megamaschine“, Wien 2015) Es ist die Wiederholung der Geschichte eines Niedergangs. Delikat ist allerdings, dass die Möglichkeit absoluten Scheiterns im Anthropozän weltgeschichtlich zum ersten mal gegeben ist. Wir sind die erste Menschengeneration, die nicht nur unveränderliche Spuren des eigenen Lebens in allen Naturreichen hinterlässt, sondern die, darüber weit hinaus gehend, dazu in der Lage ist, alles und alle komplett zu zerstören. Die dadurch geforderten Bewusstseinsprozesse sind tatsächlich so außerordentlich, dass nur wenige Menschen dem massiven Druck standzuhalten vermögen. Dem größten Teil der Menschen bleibt der Ernst der Lage, ob aktiv gewollt oder weil die Gemengelage für das eigene Fassungsvermögen zu komplex ist, verschlossen. Daraus flieht, wer irgend kann. Fabian Scheidler pointiert: „Auf der ganzen Welt entstehen Netzwerke von „gated communities“, von „green zones“, verbunden durch Hochsicherheitskorridore. Die Highways, auf denen die Erwählten in klimatisierten SUVs fahren, durchschneiden das Land der Verlierer, denen nur der Staub und der aus dem fenster geworfene Müll bleibt. Das himmlische Jerusalem unserer Zeit wird von Polizeirobotern und Drohnen gegen diejenigen, die dem Schwefelsee zu entkommen versuchen, geschützt.“ (in: „Das Ende der Megamaschine“, Wien 2015) Aber ist es wirklich das, was der Apokaliyptiker Johannes gemeint hat, als er in seinem Offenbarungsbuch vom neuen Himmel und der neuen Erde schrieb? Vielleicht ist damit ja noch etwas ganz anderes gemeint!?