Grenzerfahrungen als Chance

Es zeigt sich immer wieder, dass ungewöhnliche Grenzerfahrungen – vom Leben bereitet oder vom Menschen bewusst gesucht, bzw. herbeigeführt – eine besondere Art der Kreativität, mithin Genialität, fördern, die die Möglichkeiten des Menschen weit über das Maß des Alltäglichen hinaus steigern.

Dafür gibt es zahllose Beispiele. Historisch belegt ist, dass der spanische Eroberer Hernando Cortez im Jahr 1519 jene elf Schiffe verbrennen ließ, mit denen er zuvor mit 700 Mann von Kuba nach Mexiko gesegelt war. Er hatte seinen Männern damit die Möglichkeit des Rückzugs genommen, was dazu führte, dass sie sich der Übermacht des mexikanischen Heeres mit dem Mut der Verzweiflung erfolgreich entgegenwarfen. Sie vollbrachten etwas eigentlich Unmögliches, bis dahin Unvorstellbares, weil es für sie keinen Weg zurück mehr gab!

So spektakulär diese Begebenheit auch ist, steht sie dennoch exemplarisch für das, was jedem Menschen im persönlichen Leben – mehr oder weniger heftig – immer mal wieder begegnet, nämlich für die Konfrontation mit einer Krise! Außerdem steht die Entscheidung des Offiziers für jene absolut ungewöhnliche Art der Entscheidung, die in vermeintlich auswegloser Lage die Chance auf ein Fortkommen ermöglicht.

Nun ja, worum geht es? Um der Antwort etwas näher zu kommen, stellen Sie sich jetzt bitte mal vor, dass Sie – in einem Zirkus oder Varieté – Akrobaten zuschauen, die sich in luftiger Höhe grazil und sicher bewegen. Darüber staunen Sie, weil Sie sich erstens darin sicher sind, es so ganz sicher nicht zu können, und weil Sie, zweitens, aber im selben Augenblick wissen, dass auch Sie es „eigentlich“ könnten, wenn Sie keine Höhenangst hätten, genug trainieren würden usw. Sie erleben staunend, was ein Mensch – und das sind Sie ja auch – prinzipiell so alles kann. Sie werden mit den Mitteln der Kunst gleichsam über sich selbst hinausgeführt. Sie blicken auf das Portfolio der Möglichkeiten des Menschen. Der zirzensische Zauber beruht eben genau darauf, dass Menschen sich mit dem Ungewöhnlichen staunend verbinden. Kinder haben es damit natürlich leichter als wir Erwachsenen...

Wenn Sie sich nun nicht in einem Zirkus befinden, sondern im vierten Stock eines brennenden Hauses, und wenn der einzige, ihnen noch offen stehende Fluchtweg über den Balkon und das Fallrohr zum Bürgersteig hinab führt, werden Sie diesen Weg vermutlich beschreiten, – aller Höhenangst und mangelnden Übung zum Trotz. Bis Sie wieder sicheren Boden unter den Füßen spüren, werden Sie hochkonzentriert und wach versuchen, die Aufgabe zu meistern.

Ebenso ging es den Soldaten am mexikanischen Strand: Sie waren gezwungen, sich dem eigentlich Unlösbaren ganz und gar zu stellen! Auch die Akrobaten auf dem Hochseil, oder der Fliehende am Fallrohr müssen mit der jeweiligen Situation total verschmelzen, um sie zu einem glücklichen Ende bringen zu können. Darauf, nicht mehr bei sich selbst, sondern ganz „bei der Sache“ sein zu können, kommt es vor allem an. Es ist der absolute Glauben an eine mögliche Zukunft, die den Menschen über sich selbst hinaus mit der Welt verbunden sein lässt. Hier tritt die Chance zutage, die mit jener Situation verbunden ist, in der wir alle uns gemeinsam und global befinden: Wir müssen Lösungen finden, die es erfordern, dass wir dazu ganz und gar mit der Welt verschmelzen. Eine solche Erfahrung mitweltlicher Verbundenheit liefert einen wichtigen Aspekt für den Umgang mit den Krisenerfahrungen im Hier und Heute. Wenn wir unseren Lebensraum mitweltlich erleben, wenn wir den Sorgen, Nöten und Leiden unserer Mitwesen empatisch und total identifiziert begegnen, kommen wir der Lösung der drängenden Fragen unseres Lebens und unserer Zeit um ein gutes Stück näher.