Das Ganze wirkt im Teil

Wenn aus heutiger Sicht gesagt werden kann, dass sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts an eine Naturwissenschaft entwickelte, die, von einem mechanistischen Weltbild getragen, zuerst an einer analysierenden Erforschung von Details interessiert ist, gilt es als ebenso bedeutend, dass davor noch eine Methode von Weltbetrachtung und -erforschung vertreten wurde, die vor allem durch ein holistisches Verständnis geprägt war.

Als ein bedeutender Vertreter dieser Richtung gilt Alexander von Humboldt. Für ihn waren alle Wesen und Erscheinungen der Natur miteinander in einem „Netz des Lebens” verknüpft, woraus sich für ihn zugleich eine Dimension ökologischer Verantwortung erschloss: „Betrachtet man die Natur nun als Netz, wird offensichtlich, welchen Gefahren sie ausgesetzt ist. Alles hängt mit allem zusammen. Wenn ein Faden gezogen wird, kann sich das ganze Gewebe auflösen.” (Wulf, Andrea: Alexander von Humboldt, München 2016, S. 24)

Sein Verständnis vom Zusammenhang eines natürlichen Ganzen mit allen Teilen hat Humboldt auf die verschiedensten Naturreiche ebenso angewendet wie auf die gesamte Erde als Lebensraum. Aufgrund seiner Exkursionen am Chimborazo erkannte er beispielsweise die Gesetzmäßigkeit in der Gliederung und Abfolge der Vegetationszonen der Erde, insofern er feststellte, dass deren Abfolge an einem Berg vom Tal zum Gipfel jener vom Äquator zum Nordpol entspricht. Ein Aspekt vom Ganzen (Lebensorganismus Erde) erscheint im Teil (Berg). Humboldt fertigte damals aufgrund seiner Beobachtungen eine übersichtliche Zeichnung an und fügte sie seinen Ausführungen „Ideen zu einer Geografie der Pflanzen” hinzu. In diesem Buch entwickelte er seine Ideen von der Natur als einem ganzheitlichen Zusammenwirken verschiedener Lebenswelten. Insofern lässt sich tatsächlich sagen, dass er das erste ökologische Buch der Welt geschrieben hatte.

„Wenn alles mit allem zusammenhing, war es wichtig, bei der Untersuchung von Unterschieden und Ähnlichkeiten nie das Ganze aus den Augen zu verlieren. Der Vergleich – und nicht abstrakte Mathematik oder Zahlen – wurde Humboldts wichtigstes Werkzeug zum Verständnis der Natur.” (Wulf, Andrea: Alexander von Humboldt, München 2016, S. 56)

Dieses Prinzip verfolgte auch Johann Wolfgang von Goethe am Ende des 18. Jahrhundert im Zusammenhang seiner botanischen Studien, aufgrund derer er schließlich gar von einer „Urpflanze” sprach. Mit diesem bemerkenswerten Begriff bezeichnete er ein geistiges Urbild aller Blütenpflanzen, das jeder nur möglichen Form der im Physischen erscheinenden Pflanzen zugrunde liegt. Goethe betrachtete die Welt dafür ebenfalls holistisch, also vom Ganzen zum Teil fortschreitend, und nicht additiv von den einzelnen Pflanzen aus hin zu einer vereinheitlichten Systematik, wie Carl von Linné es einige Jahrzehnte vorher getan hatte. Zur Idee einer Urpflanze war Goethe gelangt, als er während seiner Italienreise die Gärten von Palermo besuchte. Damals ging er aufgrund des Eindrucks der vielen verschiedenen Pflanzen schließlich von jenem Postulat einer Urpflanze aus, deren Existenz es dem Menschen auch erst ermöglicht, eine Pflanze als eine solche erkennen zu können. Dass es sich bei der Urpflanze um ein geistiges Urbild alles Pflanzlichen, also nicht etwa um die eine, ursprüngliche, physisch gegenwärtige Pflanze handeln würde, von der alle anderen sich ableiten ließen, verdeutlichte er in seinem Hauptwerk zur Botanik, indem er die „Metamorphose der Pflanzen” derart beschrieb, dass eine „geheime Verwandtschaft der verschiedenen äußern Pflanzenteile” mit einem gemeinsamen, allen differenzierten Erscheinungen zugrunde liegenden Prinzip hervortritt. Mit seiner Schrift zur Metamorphose der Pflanzen prägte Goethe den Begriff „Morphologie” (aus altgriechisch μορφή morphé, ‚Gestalt‘, ‚Form‘, und λόγος lógos ‚Lehre‘) und gab überdies den Anstoß zur Entstehung des so bezeichneten Teilbereichs der Biologie.

Die These, dass wir Menschen eine Pflanze als Pflanze erkennen, weil in unseren Gedanken jenes Urpflanze genannte Prinzip gegenwärtig wird, das auch der Ausbildung aller verschiedenen Pflanzengestalten als Lebenskraft zugrunde liegt, setzt ein Naturerleben voraus, das sich ebenso auf Tiere und Menschen sowie auf die anorganische Natur anwenden lässt. Grundsätzlich geht es dabei darum, aufgrund äußerer Merkmale einer Gestalt von einer Erfahrung des Seins zum Erleben des Werdens überzugehen. Tatsachen der Entwicklung werden darin als Gemeinsamkeiten sichtbar, von denen aus Lebewesen sich in den verschiedensten Gestalten ausformen.