Anthroposophen und der "Kreuzberg Blues" (Rezension)

 

Ein Krimi-Bestseller sorgt für Aufruhr

 

Im neuen Krimi (1) des Erfolgsautors Wolfgang Schorlau geht es in bekannter Manier um gesellschaftliche und politische Missstände. Diesmal sind es die kriminellen Machenschaften der Immobilienspekulanten, die ausgesprochen gut recherchiert den Plot bestimmen. Durch Investition in Betongold zu Macht und Reichtum aufgestiegene Mittelständler und ein multinational agierender Konzern treiben ihre Gewinne mit widerlichen Attacken immer höher. Mieter organisieren sich, leisten erbitterten Widerstand, und die Politik versucht sich unbeholfen an der Begrenzung des Schadens. Der Privatermittler Georg Dengler bringt schließlich Licht ins Dunkel und klärt die Verbrechen auf.

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Schorlau beschreibt meisterhaft und gut recherchiert was tatsächlich tagtäglich geschieht. Wer das politische Tagesgeschehen verfolgt, weiß natürlich welche Investmentgesellschaft sich hinter dem Namen „Blackhill” verbirgt und wer deren deutscher Aufsichtsratsvorsitzender „Holger May” (dem „trotz seines schneidigen Auftretens immer auch der traurige Geruch des Verlierers anhaftet”) tatsächlich ist. Das ganze ist ausgesprochen lesenswert!

 

Soweit so gut – würde der Autor sich nicht auch kritisch mit „den Anthroposophen” befassen. (2)

Während der Arbeit an seinem Roman kam es zum Ausbruch der Corona-Pandemie, die der Autor daraufhin in die Rahmenhandlung aufgenommen hat. Er schreibt darüber, dass sich unter den Corona-Leugnern auch Anthroposophen finden, lässt eine seiner Romanfiguren von traumatisierenden Kindheitserfahrungen im anthroposophischen Elternhaus, Waldorfkindergarten und in der Christengemeinschaft berichten, und er mutmaßt, das es rechte, verschwörungstheoretische Kreise darauf angelegt haben, Anthroposophen an sich zu binden, um so eine ganz neue „nationale Bewegung” zu schaffen, die „weit offen für die rechten Kräfte ist”. (3)

 

Trifft der Autor damit, ebenso gekonnt wie bezüglich der vielen anderen Facetten des aktuellen Lebens, die Wirklichkeit? Werden Kinder in anthroposophischen Familien tatsächlich mit skurrilen Riten unterdrückt und in waldorfpädagogischen Einrichtungen misshandelt? Sind Anthroposophen esoterische Spinner und apokalyptische Untergangsvisionäre – oder gar Querdenker bzw. Protagonisten der neuen Rechten?

 

Tatsächlich kommt all das, wie in allen anderen gesellschaftlichen Kreisen, leider hin und wieder auch in der anthroposophisch geprägten Szene vor. Aber die Unterdrückung und Misshandlung von Kindern ist kriminell und esoterisch verschwurbelte Verschwörungs- und Untergangsphantasien sind grottendumm – hier wie dort!

Kaum dass der Roman erschienen ist, erwägen die ersten Anthroposophen den Widerstand und wollen beim Verlag intervenieren. Aber es sind tatsächlich Leute aus den eigenen Reihen, die den Ruf einer ganzen Bewegung beschädigen, das wird besonders jetzt während der Corona-Pandemie deutlich. Im Artikel „Wir können alles außer impfen” von Dietrich Strauß, der Schorlau als eine der Quellen für seine Ausführungen zur Anthroposophie diente, wird auf viel Merkwürdiges in der anthroposophischen Szene hingewiesen. Zum Beispiel auf das Engagement des „anthroposophische[n] Vordenker[s] Christoph Hueck auf der Stuttgarter ‚Querdenken‘-Demo im Mai”, auf der er das „diktatorische Regierungshandeln” beklagte und sagte, dass einem guten Immunsystem das Corona-Virus nichts anhaben könne. (4)

 

Damit steht er in einer Reihe mit z.B. Martin Hirte (5) und Mathias Poland (6), die als anthroposophische Ärzte zu den exponierten Corona-Leugnern gehören. Hueck selbst kandidiert nun auch noch für WiR2020. Die Ziele dieser neuen Partei, die sich in gesundheitspolitischen Fragen durch Sucharit Bhakdi beraten lässt, sind u.a. „die Rücknahme sämtlicher Gesetzesmaßnahmen im Zusammenhang mit den sogenannten Covid 19-Maßnahmen" und „die Einsetzung eines außerparlamentarischen Untersuchungsausschusses zur sogenannten Covid-19-Pandemie". (7)

 

Manche kruden Ideen werden aber nur hinter vorgehaltener Hand oder in geschlossenen Gruppen verbreitet. In der Telegram-Gruppe „Waldorf BW kritische Lehrer&Eltern“ mit über 200 Mitgliedern, in der nicht nur Corona geleugnet wird, sondern auch Verschwörungstheorien und rechtes Gedankengut geteilt werden, heißt es beispielsweise, dass es „geisteskrank” sei, Kindern Corona-Schutzmaßnahmen wie die AHA-Regeln beizubringen (Abstand halten, Hygiene, Alltagsmaske tragen). (8)

 

In den sozialen Medien finden sich inzwischen einige Profile, in denen Anthroposophie, Verschwörungsideologien und klar rechtes Gedankengut vermischt werden. Eine ehemalige Waldorflehrerin beispielsweise huldigt auch nach dem Ereignissen am Kapitol Trump und beschuldigt die Antifa für die Exzesse verantwortlich zu sein. (9)

 

Von den Verantwortlichen der anthroposophischen Bewegung gibt es bislang zu wenig klare Worte zu den Idiotien in eigenen Reihen. Manchmal sogar im Gegenteil. Wer wundert sich da über das entsprechende Medienecho? Statt aufgeregt in eine Abwehrhaltung gegenüber Autoren wie Wolfgang Schorlau zu verfallen, sollte man ihm eher dafür danken, dass er zum Nachdenken – und hoffentlich auch zum Handeln – Anlass gibt. Unhaltbaren Thesen und der Verbreitung rechter Gesinnungen muss entschieden entgegengetreten werden. Dazu gehört auch ein von Vernunft getragener Umgang mit dem Werk Rudolf Steiners, besonders dann, wenn Verirrte und ewig Gestrige es für ihre Zwecke missbrauchen. Die Ethnologin Ute Siebert, selbst ehemalige Waldorfschülerin, fragte einmal: „Was ist so schlimm daran, Rudolf Steiner nach sozialwissenschaftlicher Manier in den Kontext seiner Zeit zu setzen? Warum fällt es Anthroposophen so schwer, den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem Rudolf Steiner gelebt und gedacht hat, mitzulesen, wie bei jedem anderen Philosophen auch? Warum kann man als Anthroposoph nicht sagen: Auch bei Steiner gab es Widersprüche und dunkle Seiten?” (10) Selbstkritik hat noch niemandem geschadet, realitätsfernes Wegschauen dagegen schon!

 

1. Schorlau, Wolfgang: Kreuzberg Blues – Denglers zehnter Fall, Köln 2020

2. Schorlau, Wolfgang: Kreuzberg Blues – Denglers zehnter Fall, Köln 2020, Seiten 191, 198, 357, 375 ff., 389 ff.

3. Schorlau, Wolfgang: Kreuzberg Blues – Denglers zehnter Fall, Köln 2020, Seiten 191

4. https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/484/wir-koennen-alles-ausser-impfen-6853.html

5. https://www.martin-hirte.de/coronavirus/#Menschengemachte

6. https://www.badische-zeitung.de/suedwest-1/der-arzt-dem-die-corona-leugner-vertrauen?cn=abo-digi-x-wall-sale-newsletter-red

7. https://www.heise.de/tp/features/Wir2020-eine-Mixtur-aus-Esoterik-und-Mittelstandsideologie-4844633.html

8. https://anthroposophie.blog/2020/12/29/die-mutter-von-coronazien/

9. https://www.facebook.com/angelika.heidejensen

10. http://www.akdh.ch/ps/Sieber-Ravagli.htm