Bis in die allgemeine Vorstellungs- und Sprachwelt hinein ist die Bezeichnung der Natur als unser aller Mutter bis auf den heutigen Tag präsent geblieben. Es ist eine starke Metapher, die sowohl im uralten kulturellen Erbe wie auch in den tiefsten seelischen Empfindungen der Menschen verankert ist.
In den frühen Zeiten der menschheitlichen Entwicklung wurde der Zusammenhang mit der Natur noch sehr nah und intensiv erlebt. Man entnahm aus ihr noch ganz direkt aus nächster Umgebung, was zur unmittelbaren Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse nötig war. Die Empfindungen stärkster Verbundenheit mit der Welt der Pflanzen und Tiere resultierten aus dieser unmittelbaren, im wahrsten Sinne des Wortes sehr nahen Erfahrung des dauernden Versorgtseins. Ebenso gebot die Natur – früher mehr als heute – äußerste Ehrfurcht, insofern die Menschen ihren gelegentlichen Unbillen noch relativ schutzlos ausgeliefert waren. Klimatische oder meteorologische Ereignisse konnten lebensgefährlich sein. Das brausende Meer, mächtige Gewitter, Dürren oder Flutereignisse waren in ihrer Macht groß, überwältigend und noch weitgehend unverstanden. In all dem konnte der Mensch nicht anders, als sich unbeholfen und schwach, eben kindlich zu fühlen.
Eine ähnlich tiefe Empfindung verbinden wir Menschen mit der Tatsache, dass kein Leben ohne mütterliche Herkunft ist. Jede Mutter ist ja ein konkretes Lebewesen, das für die Weitergabe des Lebens an ein folgendes Wesen sorgt und das für dessen erste Entwicklung bis zur mehr oder weniger entfalteten Selbstständigkeit Sorge trägt. Mütter geben Leben, Nahrung, Schutz und Liebe. Unter allen Lebewesen der Erde ist der Mensch am intensivsten und längsten auf diese Zuwendung angewiesen.
Obwohl zu berücksichtigen ist, dass wir Menschen unterschiedliche Erfahrungen mit unseren Müttern gemacht haben – weil sie ihrer Rolle mehr oder weniger gut entsprachen –, verfügt doch jeder Mensch über die Kenntnis von einer Art Urbild des Mütterlichen, das von jeder möglicherweise noch so schmerzhaften biografischen Erfahrung unabhängig ist. Dieses Urbild des Mütterlichen bietet heutzutage die große Chance, ein entsprechendes Verhältnis zur Welt zu begründen. Während in früheren Zeiten das Verhältnis zur umgebenden Welt das Bild von der Mutter Natur im menschlichen Bewusstsein erschuf, können wir Heutigen uns daran begeben, dieses Bild bewusst zu handhaben, um unserer Lebenswelt eine besondere Qualität der Erfahrung und Ethik hinzuzufügen. Das Verhältnis des Menschen zur Natur bekäme unter dieser Voraussetzung eine im besten Sinne moralische Dimension: Die Mutter unterwirft und überfordert man nicht. Stattdessen wird man sich um dankbare Wertschätzung bemühen, ihr hilfsbereit zur Seite sein, sie in jeder Hinsicht unterstützen, verteidigen und lieben.
Vielleicht sind es gerade die gegenwärtig an einer geschundenen Natur zutage tretenden Folgen menschlichen Handelns, die uns an das Urbild und unsere Verantwortung erinnern. Vielleicht sind es auch ganz neue Eindrücke von Welt, Natur und Leben, die unser Gewissen erreichen und erwecken. Eine Erfahrung zum Beispiel, die Astronauten am Weihnachtstag des Jahres 1968 machten, war von solcher Qualität. Es war der Moment, in dem Apollo 8 den Mond umkreiste und Menschen erstmals den Aufgang der Erde erlebten, die über der schroffen Oberfläche des Mondes vor dem dunklen Hintergrund des Alls als leuchtender, blauer Juwel erschien. Die Möglichkeit einer in alle Welt übertragenen Weihnachtsbotschaft nutzten die drei Astronauten, indem sie die biblische Schöpfungsgeschichte verlasen, so ergriffen waren sie.
Das Bild der Erde im Weltraum, der Mutter Erde inmitten der von Sternen erfüllten kosmischen Weiten, findet sich heute vielfach verbreitet. Die allermeisten Menschen kennen es. Der Schweizer Schriftsteller und Architekt Max Frisch trug schon ein solches Bild in sich und beschrieb die Erde als „ein Gestirn, das blühend durch die Weltnacht schwebt” (Frisch, Max: Santa Cruz. Eine Romanze, Basel 1947, S 48). Schönere Worte lassen sich für unser aller Mutter kaum finden!