Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus (Rezension)

Die Christengemeinschaft, 1922 durch Friedrich Rittelmeyer und 44 weitere Persönlichkeiten im Goetheanum in Dornach gegründet, befand sich 1933 noch ganz am Anfang ihrer Entwicklung. In seinem soeben erschienenen Buch beleuchtet Frank Hörtreiter, wie innerhalb dieser „Bewegung für religiöse Erneuerung” mit dem Nationalsozialismus umgegangen wurde.

  Die Studie beginnt mit einem längeren Kapitel zu Friedrich Rittelmeyer, der schon in den Jahren vor 1922 als evangelischer Geistlicher einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hatte. Hörtreiter beleuchtet das Werk dieses Theologen mit wohlwollend-kritischer Distanz. So kommentiert er beispielsweise auch Rittelmeyers Verherrlichung des Ersten Weltkriegs oder einige antisemitische Äußerungen. Zugleich wird herausstellt, wie sehr Rittelmeyer (ab 1925 im Amt des „Erzoberlenkers”) unablässig und zuweilen opportunistisch um den Fortbestand der Christengemeinschaft in der NS-Zeit gekämpft hat.

  Zahlreiche Dokumente, die teilweise durch Hörtreiter erstmals veröffentlicht werden, belegen, dass man sich im Kreis der Priester:innen der Gefahren des Nationalsozialismus schon sehr früh bis zu einem gewissen Grad bewusst war. Eduard Lenz schrieb in einem von ihm herausgegebenen „Pressebrief” schon 1931 : „Man trifft in Deutschland immer wieder auf die Tatsache, dass Mitglieder und Freunde der C. G. Anhänger und Bewunderer der Hitlerbewegung sind. Es wäre gut, sie auf die Konsequenzen ihrer Anschauungen hinzuweisen.” Warnende Stimmen erhoben auch andere, wie beispielsweise Robert Goebel und Alfred Heidenreich.

  Während es unter den etwa 120 Priestern der damaligen Zeit nur zwei Nazis – nämlich Jan Eekhof und Johannes Werner Klein, der aber bereits 1929 den Kontakt zur Christengemeinschaft abgebrochen hatte – gab, waren unter den Gemeindemitgliedern nicht wenige, die sich zum Nationalsozialismus bekannten. Manche von ihnen waren eher „Mitläufer”, andere versuchten, ihre Kontakte bis in höchste Führungsebenen des NS-Staates zu Gunsten der Christengemeinschaft zu nutzen. So beispielsweise Hans Erdmenger und Hellmuth von Ruckteschell. Sie hatten direkten Zugang zu Großadmiral Erich Raeder und Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und Chef der Gestapo, und setzten sich bei ihnen nach dem Verbot der Christengemeinschaft für die Entlassung der Pfarrer aus der Gestapo-Haft ein.

  Es ist aus heutiger Sicht schwer vorstellbar, wie in den Gemeinden Verfolgte und Anhänger der Verfolger zusammen eine Sakramentsgemeinschaft pflegten. Erschütternd ist es darüber zu lesen, dass einerseits jüdischen Mitgliedern in einzelnen Gemeinden mehr oder weniger nahegelegt wurde, den kirchlichen Veranstaltungen fernzubleiben, um die Christengemeinschaft nicht zu gefährden, und wie andererseits Friedrich Rittelmeyer ausdrücklich darauf bestand, dass niemand von den Sakramenten ausgeschlossen werden dürfe. „Obwohl sich die Berichte in Einzelheiten unwesentlich unterscheiden, stimmen sie in der Grundaussage Rittelmeyers überein: Jüdischstämmige haben den gleichen Zugang zum Altar. Die Christengemeinschaft würde ihre Identität verlieren, wenn sie sie ausschlösse.”

  Hörtreiter berichtet in seinem Buch auch von einer Ausschleusungsaktion nach England und bringt bedrückende Dokumente – beispielsweise den Bericht von Martha Haarburger, die das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte –, welche das ganze Ausmaß des Schreckens bis hin zu Deportationen, Gemeindeversammlungen im Konzentrationslager und die Ermordung von Mitgliedern der Christengemeinschaft durch die Nazis belegen.

Nachdem die Anthroposophische Gesellschaft bereits 1935 verboten worden war, suchten viele ihrer Mitglieder den Anschluss an die Christengemeinschaft. Alfred Heidenreich warnte 1936 die deutsche Priesterschaft ausdrücklich vor der damit verbundenen Gefahr, dass die Christengemeinschaft von den Nazis als anthroposophische Tarnorganisation verstanden werden könnte. Trotz aller Bemühungen um Vorsicht wurde die Christengemeinschaft schließlich 1941 verboten und ihre Priester:innen vorübergehend inhaftiert. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand wissen, dass das nicht das Aus für immer bedeutete, sondern die Arbeit nach Kriegsende auch in Deutschland wieder aufgenommen werden konnte!

  Hörtreiter schreibt im Blick auf die Jahre von 1933 bis 1945, geht aber zumindest kurz auch darauf ein, was jüngst im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zutage trat. Tatsächlich sind heute in den sozialen Netzwerken öffentlich zugängliche Statements und Diskussionen zu finden, an denen sowohl Pfarrer wie Mitglieder der Christengemeinschaft beteiligt sind und in denen Positionen und Narrative der neuen rechten Szene goutiert und verbreitet werden. Damit werden zweifellos sowohl die Christengemeinschaft wie die anthroposophische Bewegung im Allgemeinen beschädigt.

Zuletzt geht Hörtreiter auch auf Friedrich Benesch und Werner Georg Haverbeck ein, obwohl das über den Rahmen seiner Studie hinausgeht – beide wurden erst nach 1945 zu Priestern der Christengemeinschaft. Grund dafür ist die Tatsache ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit. Ein Unterschied zwischen beiden besteht allerdings darin, dass Benesch nach 1945 keine nationalsozialistische Gesinnung nachgesagt werden kann, während Haverbeck auch nach 1945, also als Priester der Christengemeinschaft, mit der Szene der Neonazis verbunden blieb.

  Mit seinem Buch schließt Frank Hörtreiter eine Lücke in der Darstellung der Historie einer Tochterbewegung der Anthroposophie. Seine Darstellungen sind klar, schonungslos und darum zuweilen nicht einfach zu verkraften. Bemerkenswert ist vor allem der ausführliche Anhang, in dem viele Dokumente in voller Länge wiedergegeben werden. Auch wenn er – selbst Priester der Christengemeinschaft – vor allem ein Buch für „Insider” geschrieben hat, verdienen es seine Ausführungen und die ausführlichen Zeitzeugenberichte, über die Kreise der Christengemeinschaft hinaus beachtet zu werden.