Selbstorganisation

Leben ist dort wo etwas Seiendes durch Bedürfnisse mit den Bedingungen und Stoffen für seinen Erhalt mit der Welt verbunden ist. Das erfahren die Wesen der verschiedenen Naturreiche mehr oder weniger deutlich und handeln entsprechend. Der Mensch vermag es jedenfalls, rück- und vorausschauend Ideen zu entwickeln und so seine Verbindung mit der Welt nach eigenem Gusto zu gestalten. Indem er seine geistigen Fähigkeiten für die Erkenntnis einsetzt, dass sowohl die natürlichen Grundlagen seiner Existenz wie auch die Bedingungen seines typisch menschlichen Handelns essenziell mit Vorangegangenem und Folgendem verknüpft sind, gewinnt er einen Eindruck von einem Ganzheitlichen, das allem weltlich Getrennten zugrunde liegt.

Das Sieben-Generationen-Gewahrsein der Haudenosaunee ist genau darauf gerichtet. Es bezieht sich implizit ja nicht nur auf Generationen von Menschen, sondern auch auf die von ihnen geschaffenen und gepflegten Lebensräume – und zwar über die Gegenwart hinaus bis in die Vergangenheit und Zukunft hinein. Dadurch wird der Ansatz zu einem systemischen, dem Eindruck der Ganzheit zugewandten.

Damit beschäftigten sich im 19. Jahrhundert nicht nur Emerson und Thoreau, sondern beispielsweise auch Immanuel Kant, der den Begriff der Selbstorganisation zur Charakterisierung der belebten Sphäre einführte, und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling mit seiner Naturphilosophie. Im Kern geht es um eine Theorie der Emergenz (lateinisch emergere „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“), also darum, die besonderen Eigenschaften eines Systems zu verstehen, die nicht diejenigen ihrer Teile, sondern etwas ganz anderes sind.

Indem man sich unter den Vorzeichen der Selbstorganisation nicht nur mit einzelnen Lebewesen, sondern mit Gemeinschaften von Lebewesen beschäftigt, wird ein bemerkenswerter Schritt vollzogen, der darin besteht, dass ein System als eigener Organismus verstanden wird. Ein Organismus ist was er ist, weil er sich von anderen Organismen klar unterscheidet, in eigener Weise Bedürfnissen folgt, Erfahrungen sammelt und sich entwickelt. Diese vier Phänomene zusammengenommen vermitteln den elementaren Eindruck von einem Lebewesen.

Zu den Tatsachen des Lebens gehört, dass Entwicklung zuweilen an Punkte führt, an denen etwas völlig neues in Erscheinung tritt, was nicht aus dem Fortschreiben von Vorangegangenem abgeleitet werden kann. Ein simples Beispiel dafür ist die Blüte einer Pflanze, die in gewisser Weise so unvermittelt erscheint, als habe die Natur dafür einen Sprung gemacht. Ein anderes, kompliziertes Beispiel für Emergenz sind das Auftreten und die Eigenschaften des Bewusstseins durch das Gehirn, dessen Funktion u.a. auf einer riesigen Zahl von Nervenzellen beruht, was allerdings nicht erklärt was Bewusstsein für sich genommen überhaupt ist. In beiden Fällen – es ließen sich noch viele weitere Beispiele anführen – haben wir es mit dem Wunder des Lebens zu tun, insofern wir „etwas” bemerken, das zu einem Leib, respektive zu einem System gehört und anderes ist als die Summe seiner Teile. Offensichtlich gehört zu jedem Leib ein Lebewesen, das darin autopoietisch (altgriechisch αὐτός autos, deutsch ‚selbst‘ und ποιεῖν poiein „schaffen, bauen“) wirksam ist.

Mit dem Phänomen des Auftretens emergenter Eigenschaften beschäftigen sich Wissenschaftler und Philosophen auch im Blick auf soziale Gemeinschaften. Weil es auch in diesem Bereich vielfältige, mittlerweile gut dokumentierte Beispiele für Emergenzen gibt – Herden- und Schwarmverhalten der Tiere, Gruppendynamik zwischen Menschen usw. –, sind neue Ansätze zum Verständnis lebender Systeme entwickelt worden. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Jahrhunderte alte Vorstellung der Haudenosaunee von einer lebendigen, Generationen übergreifenden Verbundenheit der Menschen eine bemerkenswerte Aktualität.

 

(aus »Sieben Generationen«, Saarbrücken 2022, S. 134 f.)