Die Entwicklung

Die Haudenosaunee entsenden in den Rat der Konföderierten Menschen, die besondere Fähigkeiten entwickelt haben. Sie werden als „Hoyaneh” bezeichnet, was etwa „Hüter des Friedens” bedeutet. Die Einsetzung in dieses Amt geschieht, indem in einem Ritual das Erreichen der notwendigen geistigen Reife feierlich festgestellt wird. Das ist bemerkenswert, weil damit implizit von einer geistigen Entwicklung ausgegangen wird, die einem jeden Menschen prinzipiell möglich ist. Im Zuge dieser Entwicklung treten einzelne Menschen aus ihren Stammeszusammenhängen immer mehr hervor. Das ist das eine.

Das andere ist, dass es im Sinne der Haudenosaunee darauf ankommt, für eine solche Entwicklung über sich selbst und die eigenen Interessen hinauszuwachsen. Es wird dafür konkret Bezug genommen auf die sieben Generationen, also auf etwas, was der betreffende Mensch selbst nicht ist, ihn aber als Hüllen im Sinne einer „siebenschichtigen Haut“ umgibt. Die gewählte Metapher ist von wunderbarer Tiefe, denn sie lässt sich auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche anwenden (von den Bäumen des Waldes und den Kindern war bereits die Rede). Die Sieben-Generationen-Kontemplation ist darum geeignet, das Bewusstsein von Nachhaltigkeit grundsätzlich zu schärfen, weil sie die Aufmerksamkeit auf alles Vorangegangene und Folgende lenkt. Der Mensch begreift sich zwischen diesen beiden Seiten der Wirklichkeit als Wesen der Mitte. Es ist an ihm, sich dessen in allen Entscheidungen bewusst zu sein.

Wenn nun von Entwicklung die Rede ist, stellt sich zugleich die Frage, was denn überhaupt „ent-wickelt” wird? Die Antwort könnte ganz einfach lauten: Der Mensch. Frage und Antwort zusammengenommen ermöglichen sogleich einen tieferen und darum lohnenden Blick, denn wir gelangen ganz einfach zu der Erkenntnis, dass der Mensch selbst offensichtlich ein Wesen ist, das sich entwickeln kann. Es ist ihm etwas als Teil seines eigenen Wesens gegeben, das darauf wartet, zur Erscheinung und Wirksamkeit gebracht zu werden.

Um verständlich zu machen, was daran so bemerkenswert ist, können wir uns der Metapher des Samenkorns bedienen. Das ist ein vielleicht sehr kleines Ding und wirkt für sich genommen ziemlich unscheinbar. Wenn es vor uns liegt können wir uns aber vorstellen, wie daraus unter bestimmten Voraussetzungen eine große, schöne Pflanze wird, die in diesem Augenblick physisch noch nicht entfaltet, aber trotzdem bereits irgendwie da ist. Ansonsten könnte aus dem Samenkorn keine Pflanze erwachsen.

Was wir uns beim Anblick eines Samenkorns vorstellen können, wird zur greifbaren Wirklichkeit, nachdem das Korn in guten Boden gesät wurde und die Bedingungen in der Umgebung günstige sind. Nach der Aussaat werden wir uns darauf konzentrieren, dass die Umgebungsverhältnisse für die keimende Saat ideal sind. Um die einzelnen Körner ansich kümmern wir uns nicht, wohl aber um alles andere. Die Pflanze wird sich in geeigneten Verhältnissen von selbst aus dem Samen entwickeln. Und nun noch einmal die vorhin bereits gestellte Frage: Was entwickelt sich? Lesen Sie diese Frage jetzt noch einmal, Wort für Wort, ganz langsam.

Übertragen wir das Bild vom Gärtnern auf den Menschen, gewinnen wir eine ganz besondere Sicht auf die potenziell mögliche Art des Umgangs miteinander. Statt nämlich von unseren Mitmenschen direkt etwas zu verlangen oder sie in eine bestimmte Richtung zu lenken, könnten wir Bedingungen des Erlebens und der Einsicht schaffen, unter denen sich der Mensch ebenso „von selbst” entwickelt wie eine Pflanze aus ihrer Saat. So eine Grundhaltung würde nicht nur die Pädagogik verändern, sondern das ganze soziale Miteinander in unserem Leben. Aber es lässt sich auch auf den Umgang anwenden, den wir mit uns selbst pflegen: Manches entwickelt sich von selbst, wenn wir nur für die richtigen Bedingungen sorgen. In dieser Einsicht wurzelt ein uns mögliches Welt- und Selbstvertrauen.

Fassen wir zusammen: Jeder Mensch kann sich unter den entsprechenden Voraussetzungen entwickeln. Sein Wesen entfaltet sich in seiner Lebenswelt wie das einer Pflanze im Garten. Es kommt darauf an, sich dafür um günstige Bedingungen zu kümmern und sie zu pflegen, alles andere ereignet sich dann bis zu einem gewissen Grad von selbst.

Die Geste: Der Mensch ist nicht nur ein spezielles, separiertes Wesen. Er ist zugleich essenziell mit einem Ganzen verbunden, das ihn fortwährend werden lässt.